Von Dr. Irene Becker
Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist zu einem Dauerthema geworden. Auch wenn Armut vieldimensional ist und „viele Gesichter“ hat, ist relative Einkommensarmut ein zentraler Indikator für das Problemausmaß. Denn aus wissenschaftlichen Analysen geht hervor, dass materielle Armut das Wohlbefinden der Kinder beeinträchtigt, zu vielfältigen Mangelerscheinungen führen kann und die Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffenen einschränkt.
Mit guten Infrastrukturangeboten kann Armutsfolgen zwar tendenziell entgegengewirkt werden. Sie können aber kein Ersatz für auskömmliche Lebensumstände in der Familie sein. Dabei ist die finanzielle Situation nicht nur für das aktuelle Wohlbefinden maßgeblich. Sie bedingt generell die Möglichkeiten von Eltern zur Sozialisation und Förderung ihrer Kinder und wirkt unmittelbar auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen ein – so die neuere Kindheits- und Jugendforschung. Kinder- bzw. Familienarmut führt also mittel- und langfristig auch dazu, dass individuelle Potenziale brachliegen und letztlich mit negativen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu rechnen ist.
Keine Verbesserung für Familien mit wenig Einkommen
Trotz seit einigen Jahren guter gesamtwirtschaftlicher Situation und eines beträchtlichen Volumens staatlicher Transfers lässt sich eine Verbesserung der Situation von Familien im untersten Einkommensbereich nicht erkennen. Nach Ergebnissen des Mikrozensus lebt nach wie vor etwa ein Fünftel der Minderjährigen unterhalb der relativen Armutsgrenze gegenüber „nur“ einem Sechstel in der Gesamtbevölkerung. Weit überdurchschnittlich betroffen sind Alleinerziehende und ihre Kinder (etwa 44 Prozent) sowie Paare mit drei oder mehr Kindern (etwa 25 Prozent).
Dabei sind die regionalen Unterschiede nicht nur zwischen alten und neuen Bundesländern, sondern auch innerhalb von Westdeutschland beträchtlich. Beispielsweise liegt die relative Einkommensarmutsquote der unter 18-Jährigen in Nordrhein-Westfalen bei 26 Prozent. Auch von Hilfebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II sind Kinder überdurchschnittlich und regional unterschiedlich betroffen: In NRW leben 19 Prozent der unter 15-Jährigen von „Hartz IV“ gegenüber knapp 15 Prozent dieser Altersgruppe im Bundesdurchschnitt und „nur“ 9 Prozent im Durchschnitt der Bevölkerung insgesamt.
Das bestehende System ist nur eingeschränkt wirksam
Die Erfolglosigkeit bei der Bekämpfung von Kinderarmut ist zumindest teilweise eine Folge der Ausrichtung der Familienpolitik. Sie spiegelt eine implizite Zielhierarchie mit Vorrang der horizontalen Steuergerechtigkeit – die Besteuerung darf erst einsetzen, wenn das Einkommen das Existenzminimum aller Familienangehörigen übersteigt – gegenüber dem Ziel des vertikalen Ausgleichs, also einer Umverteilung von oben nach unten.
Daneben impliziert aber auch die derzeitige Gestaltung des sozialen Ausgleichs dessen eingeschränkte Wirksamkeit: Die Komplexität des Transfersystems führt zu Schnittstellenproblemen sowie im Kontext mit Stigma, das mit dem Bezug von „bedarfsgeprüften“ Transfers verbunden ist, zu einer geringen Inanspruchnahme zustehender Leistungen.
Nach Schätzungen werden mit dem SGB II bzw. XII nur etwa 60 Prozent, mit Wohngeld und Kinderzuschlag nur etwa 40 Prozent der Anspruchsberechtigten erreicht. Mit Korrekturen innerhalb des bestehenden „Leistungsdschungels“, wie sie jüngst im „Starke-Familien-Gesetz“ angelegt sind, können die skizzierten Probleme allenfalls vermindert, aber nicht gelöst werden.
Vorschlag einer Kindergrundsicherung mit unbürokratischem Zugang
Vor diesem Hintergrund wurde das Konzept der Kindergrundsicherung entwickelt. Der derzeitige Familienlastenausgleich und zentrale kindbezogene Regelungen des Sozialrechts sollen durch eine zentrale Leistung mit unbürokratischem Zugang und entsprechend weitgehender Inanspruchnahme ersetzt werden. Der Vorschlag basiert auf der Erkenntnis, dass für ein gutes Aufwachsen in dieser Gesellschaft neben förderlichen Infrastrukturangeboten eine materielle Absicherung in der Familie unabdingbar ist und auf dem ethischen Grundsatz, dass das Wohlergehen jedes Kindes gleichgewichtig ist.
Demzufolge soll für Steuer-, Unterhalts- und Sozialrecht ein einheitliches Existenzminimum gelten. Dieses soll mit dem Höchstbetrag der Kindergrundsicherung gewährleistet und mit steigendem Familieneinkommen kontinuierlich bis zum steuerrechtlich gebotenen Mindestbetrag abgeschmolzen werden.
Ob das Reformkonzept zu einer wesentlichen Verringerung von Kinderarmut führen kann, hängt entscheidend von den konkreten normativen Setzungen ab. Der politische Spielraum ist aber begrenzt durch das Ziel der Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums, das Teilhabe ermöglicht und Entwicklungschancen eröffnet. Die Normen der ersten oder Basisvariante der Kindergrundsicherung sind am Einkommensteuerrecht ausgerichtet. Das kindliche Existenzminimum und damit der Höchstbetrag der neuen Transferart entspricht der Summe der kindbedingten Freibeträge, 635 Euro monatlich im Jahr 2019.
Die Festlegung auf gegebene Parameter des Steuerrechts ist nicht zwingend
Die Abschmelzung erfolgt mit dem Grenzsteuersatz der Eltern, woraus sich 334 Euro als Mindestbetrag ergeben. Diese Variante würde Kinderarmut weitgehend verhindern. Die unmittelbaren fiskalischen Nettobelastungen werden auf gut 30 Milliarden Euro geschätzt, die sich im Falle einer Ablösung des Ehegattensplittings durch einen übertragbaren Grundfreibetrag um etwa 11 Milliarden vermindern würden.
Die a priori Festlegung auf gegebene Parameter des Steuerrechts ist aber nicht zwingend, um die Ziele der Kindergrundsicherung zu erreichen. Vielmehr sind die steuerlichen Freibeträge sowie die Anbindung der Abschmelzung an den Einkommensteuertarif strittig. Letztere impliziert eine erhebliche Begünstigung auch der oberen Mittel- und Oberschicht gegenüber dem Status quo, was nicht erforderlich ist.
Die Kindergrundsicherung sollte deshalb als normativ offenes Konzept diskutiert werden. Von wissenschaftlicher Seite sind Grundlagen zur Ermittlung des Existenzminimums entwickelt und die Effekte alternativer Abschmelztarife untersucht worden. Mittlerweile ist nicht nur in Verbänden, sondern auch in politischen Parteien ein gesellschaftspolitischer Diskurs angelaufen, dessen Ergebnisse abzuwarten bleiben.
Dr. Irene Becker ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Autorin. Das Studium an der Technischen Universität Berlin schloss sie als Diplom-Volkswirtin ab. Bis 1999 war sie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main beim Institut für Volkswirtschaftslehre tätig. Dort promovierte sie mit einer Dissertation über die Einkommensumverteilung in Deutschland. Seit 2000 ist sie als freiberufliche Wissenschaftlerin tätig.