Kommunikation des Evangeliums im Sozialraum

Sozialräumliche Öffnung der kirchlichen Praxis

„Wie wird es mit der Sozialraumorientierung der Kirche weitergehen?“, fragt in einem Gastbeitrag der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, Professor Dr. Georg Lämmlin. Sozialraumorientierung darf nach Ansicht des Theologen keine Ersatzhandlung sein, die sich dann negativ auf die Kommunikation des Evangeliums auswirkt.

Von Professor Dr. Georg Lämmlin

Die Sozialraumorientierung hat auch in der aktuellen Debatte um die Zukunft der Kirche mindestens untergründig eine wichtige Bedeutung. An zwei Stellen in den elf Leitsätzen „Kirche auf gutem Grund“ hat das Z-Team der Evangelischen Kirche in Deutschland die sozialräumliche Orientierung aufgegriffen, ohne dass allerdings der Begriff fällt. Im Rahmen der Bestimmung des missionarischen Charakters kirchlicher Praxis in der 3. These wird eine Öffnung dieser Praxis aus ihren „Komfortzonen“ heraus propagiert: „Entsprechend gilt es, bestehende Strukturen für Kooperationen zu öffnen und in enger und nachhaltiger Abstimmung mit zivilgesellschaftlichen Partnern die eigenen Angebote zu profilieren, zu konzentrieren und gegebenenfalls zu reduzieren.“ (Z. 177-170). Und im Blick auf die grundsätzliche Veränderung gesellschaftlicher (Kommunikations-)Praxis wird in These 5 das Verhältnis der Kommunikation des Evangeliums zu Formen der Gemeinschaftsbildung neu bestimmt: „‘Analoge‘ Formen der Vergemeinschaftung und digitale Angebote sind aufeinander angewiesen und sollen so gestaltet werden, dass sie nicht in Konkurrenz zueinander treten, sondern sich wechselseitig stärken. Kirche vor Ort nutzt virtuelle Räume, um die Gemeinschaft des Leibes Christi auf vielfältige Weise zu stärken.“ (Z. 235-240).

In der ersten Perspektive ist die Sozialraumorientierung vor allem mit Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Akteure im Blick, in deren Kontext sich kirchliche Praxis bewegt und zu formieren hat. Selbst dann, wenn Kirche selbst nicht (nur) als zivilgesellschaftlicher Akteur verstanden wird, bewegt sie sich mit ihren Praxisformen in diesem Kontext. Sie ist zudem in ihrer eigenen Formierung auf die Bezugnahme zu diesem Kontext angewiesen. Bei der zweiten Perspektive spielt der hybride Begriff des Sozialraums die entscheidende Rolle. Während der klassische Begriff auf die konkrete und lokale bzw. regionale soziale Infrastruktur und Institutionalisierung fokussiert war, bezieht der hybride Begriff auch die digitalen Kommunikationsstrukturen ein. Diese Kommunikationsstrukturen legen sich über die lokale soziale Infrastruktur und erweitern virtuell den Sozialraum.

Kirchliche Praxis im Quartier

An diesen beiden Punkten entspringt die Kontroverse, die auf der einen Seite eine Preisgabe der Parochie als Grundprinzip kirchlicher Praxis, auf der anderen Seite einen Verlust der konfessionellen Profilierung in zivilgesellschaftlicher Kooperation befürchtet. Dabei sind sowohl die kirchliche Praxis wie ihre ekklesiologische Reflexion an beiden Stellen längst weiter. Unter der Losung „Kirche im Quartier“ werden in der kirchlichen Praxis seit Langem Ansätze verfolgt, wie sich kirchliche Ressourcen, Strukturen und Handlungsformen den Anliegen der Menschen im konkreten Sozialraum zur Verfügung stellen lassen., Diese Ansätze eröffnen Handlungsmöglichkeiten und ermöglichen Solidarisierung, um den Nöten, Sorgen, Ängsten, Bedürfnissen, Hoffnungen und Sehnsüchten der Menschen eine – auch geistliche – Stimme zu geben.

In vielen kleinen, mittleren und größeren Zusammenhängen zeigt sich eine vielfältige Bewegung der Kirchen und ihrer sozial-diakonischen Dienste, in die städtischen und ländlichen Quartiere, Stadtteile, Dörfer, Kieze hinein. Immer mehr Projekte werden entwickelt, in denen Kirche und Diakonie in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen oder kommunalen Akteuren für mehr Lebensqualität für alle und für sozialräumliche Inklusion eintritt. Gemeindliche und diakonische Praxis bereichert das Leben in den Stadtteilen und verändert die Kirche. Dabei geht es neben der Wahrnehmung konkreter Anliegen immer auch um Fragen der Stadtplanung, des Wohnungsbaus, des Auseinanderdriftens von Armut und Reichtum, der Zuwanderung von geflüchteten Migrantinnen und Migranten  oder auch der Versorgung von zu Pflegenden oder familien- und generationengerechter Betreuungs- und Wohnformen, für die sich kirchliche und zivilgesellschaftliche Akteure gemeinsam engagieren und Beteiligungsprozesse einfordern und gestalten. Entscheidend für den Sozialraumbezug ist es, dass sich eine Kirchengemeinde tatsächlich als zu ihrem konkreten Quartier, zur Kultur der darin lebenden Menschen gehörig, als eine Akteurin unter anderen in ihrem Stadtteil versteht und engagiert, der die Lebensqualität der Menschen am Herzen liegt.

Überwindung einer überholten Entgegensetzung

Diese Verankerung der kirchlichen Praxis in den sozialräumlichen Bezügen und in der konkreten sozialen Lebenswelt der Menschen bildet gleichsam den „Humus“ für die Kommunikation des Evangeliums in spezifischen Formen kirchlicher Vergemeinschaftung, ist aber bereits selbst auch eine Form und ein Ausdruck dieser Kommunikation des Evangeliums als einer solidarischen, hoffnungs- und verheißungsvollen gemeinsamen Praxis. In dieser Praxis kann es dann auch gelingen, das konkrete Leben der Menschen religiös, im Horizont des christlichen Heils, zu deuten.

Auch in der ekklesiologische Reflexion ist die Entgegensetzung des parochialen Grundprinzips zur Orientierung an funktionalen Strukturen längst überwunden. Dies muss erst recht für die Einbeziehung digitaler oder mediatisierter Kommunikationsformen gelten. Die religiöse Lebensdeutung kann Menschen auch in funktionalen Zusammenhängen nur erreichen, wenn sie in diesen Zusammenhängen einen ganzheitlichen Bezug zu den Menschen und ihrer sozialen Einbettung herstellen kann. Das gilt etwa in der Bildung, der Sozialarbeit, der Pflege oder der Arbeitswelt, wie in digitalen Kommunikationsformen. Und auch in parochialen Räumen sind Menschen nie als abstrakte Wesen unterwegs., Sie agieren  immer mit Bezug zu Bildung, in sozialen Zusammenhängen, mit ihrer beruflichen Identität und Erfahrung und anderem, mit Aspekten, die von der Kommunikation des Evangeliums adressiert sein wollen. Die Sozialraumorientierung steht deshalb konzeptionell auch für die Überwindung einer überholten Entgegensetzung von Parochie und funktionalen Diensten. Wenn sie zudem mit dem Konzept der Zusammenarbeit in „multiprofessionellen Teams“ von Theologinnen und Theologen, Pädagoginnen und Pädagogen, Diakoninnen und Diakonen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und anderen verbunden wird, entsteht das Bild einer neuen, multiperspektivischen, agilen kirchlichen Praxis, in der die parochiale Grundstruktur nicht abgeschafft, sondern weiterentwickelt und dynamisiert wird.

Zusammenarbeit aller Mitarbeitenden „auf Augenhöhe“

Dabei handelt es sich nicht durchweg um eine neue Entwicklung. Denn bereits in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde unter dem Titel der Gemeinwesenarbeit eine sozialräumliche Orientierung kirchlicher Praxis eingefordert und gestaltet. Und bereits zuvor kann das Modell der „Gemeinschwester“ als Ausweis einer Wahrnehmung und Gestaltung des gemeindlichen Sozialraumes gesehen werden. Mit dem Modell des „Teampfarramts“ war gleichfalls bereits eine Vorform des Konzeptes „multiprofessionelle Teams“ gegeben, das sich allerdings gegen die „Normalform“ des Gemeindepfarramts nicht durchsetzen konnte. Eine konsequente Sozialraumorientierung wird dieses Konzept aber wieder neu zur Geltung bringen, denn es kann dabei nur um eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ zwischen verschiedenen Professionen und neu auch zwischen professionell und ehrenamtlich Mitarbeitenden gehen.

Über die nur untergründige Bezugnahme in den elf Leitsätzen hinaus gilt es, für die zukünftige Organisationsform der Kirche die Sozialraumorientierung der kirchlichen Praxis konsequent und konsistent auszuarbeiten. Dabei muss ein ebenso präziser, wie offener Begriff des Sozialraums zur Geltung kommen. Er bezeichnet zunächst räumliche Bezüge wie Stadtteile oder Dörfer, in denen sich das Leben von Menschen – ihre sozialen Praktiken – entfaltet. Er umfasst darüber hinaus auch die konkreten Sinnbezüge und Kommunikationsstrukturen, in denen sich diese sozialen Praktiken bewegen, von den beruflichen Zusammenhängen über die Bildungs- und Freizeitangebote bis zu den Orten und Formen symbolischer Lebensdeutung (wie in Kunst, Theater, Musik, Film und Museen) und den lokalen wie digitalen Formen öffentlicher Kommunikation.

„Beheimatung“ als eine Dimension des Evangeliums

Der Sozialraum wird durch die performative soziale Praxis der Menschen beziehungsweise durch ihre eigenen Wahrnehmungen definiert. Sozialraum ist nicht einfach da oder einfach gegeben, sondern er wird durch die in ihm wirkenden Akteure – in Resonanz mit der vorhandenen sozialen, technischen und symbolischen „Materialität“- überhaupt erst geschaffen bzw. beständig reproduziert und so stets neu initiiert. Es sind insbesondere Netzwerke von Akteurinnen und Akteuren, die einen Sozialraum ausmachen und praktisch seine Lebendigkeit definieren. Aus diesen Aktivitäten erwächst zudem eine spezifische Qualität des Sozialraums, die sich nicht zuletzt an eigentümlichen Atmosphären ablesen und erfahren lässt.

Für alle Akteurinnen und Akteure dürfte es zukünftig von großer Bedeutung sein, kooperierend und integrativ in Sozialräumen zu agieren und sie zu nachhaltig tragfähigen, inklusiven Lebensorten zu gestalten. Soziale Strukturen greifen hier mit einer zivilgesellschaftlichen Kultur der Gegenseitigkeit und des Sich-Kümmerns ineinander; Eigeninteresse und Gemeinsinn können balanciert werden. In einem so geprägten Sozialraum wird umfassende Anerkennung transportiert: Die Erfahrung der Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft wird ermöglicht – ohne aber die Einzelnen bevormundend zu vereinnahmen. Man kann an diese Produktion und Reproduktion des Sozialraums, in dem Menschen ihre Lebenswelt gestalten, den ethischen Maßstab der „Inklusivität“ anlegen (der auch die Dimension des Digitalen einschließt).

Die kirchliche Sozialraumorientierung würde dann in konstruktiver Weise mit dem Anspruch verbunden, zu dieser Inklusivität beizutragen und die solidarischen, versorgenden, identitätsstärkenden, resilienzfördernden Aspekte und Faktoren zu stärken. Dies würde auch für andere ethische Kriterien wie Gerechtigkeit, Antidiskriminierung, Teilhabe oder die Stärkung und Erweiterung von Freiheit gelten. Konkreter formuliert handelt es sich darum, aus einem Sozialraum „unser Quartier“, „unser Dorf“, unsere Stadt“, „unsere Welt“ zu machen! In dieser „Beheimatung“ realisiert sich dann auch eine Dimension des Evangeliums, die Versöhnung von individueller Identitätserfahrung und solidarischer Gemeinschaft.

„Kommunikation des Evangeliums“ erkennen und erkennbar machen

Wie wird es mit der Sozialraumorientierung der Kirche weitergehen? Sie kann zu einer neuen Vitalisierung – auch des Religiösen – führen. Dazu muss es ihr gelingen, indem sie kirchliches Handeln in neuer Weise sozial verortet und sozusagen wieder neu in das Gemeinwesen einbettet, in der sozialräumlichen Verortung „Kommunikation des Evangeliums“ zu erkennen und erkennbar zu machen. Anders sieht es aus, wenn sie sich dem Missverständnis aussetzt, dass sie mit der Sozialraumorientierung lediglich Ersatzhandlungen verfolgt: Weil sie keine Chancen mehr sieht, im engeren religiösen Bereich noch Menschen zu gewinnen, verlagert sie ihre Aktivitäten in den Bereich des Sozial-Diakonischen hinein, wo noch eine Offenheit für kirchliche und diakonische Aktivitäten zu erkennen ist. Dann verfällt sie in eine Instrumentalisierung des sozialen Engagements für die kirchliche Organisationslogik, die sich auf die Kommunikation des Evangeliums nur negativ auswirken kann.

Radikal gesagt: Soziale Dienstleistungen im Sozialraum sollten als genuin religiöse Leistungen verstanden werden. Denn das bisher auch in der Religionssoziologie häufig vorherrschende Religionsverständnis, dass Religion nur dort identifiziert werden könne, wo es ausdrücklich um die – dann letztlich immer rituelle – Kommunikation mit dem Transzendenten geht, ist zu eng, um die gegenwärtigen Aufbrüche angemessen erfassen zu können. Was sich in der Sozialraumorientierung zeigt, kann durchaus so etwas wie das Wiedererwachen einer „Sozialreligion“ (Friedrich Fürstenberg) darstellen und sollte für das Verständnis der „Kommunikation des Evangeliums“ zur Geltung gebracht werden. Möglicherweise zeigt sich dann, dass nicht nur kirchliche Praxis für die Anliegen der Menschen, sondern auch Menschen „überraschend offen“ sind für solidarische Praxisformen und sinnstiftende Kommunikation des Evangeliums.

 

Literatur

Georg Lämmlin/Gerhard Wegner, Hrsg. (2020), Kirche im Quartier: Die Praxis. Ein Handbuch, Leipzig

David Ohlendorf/Hilke Rebenstorf (2020), Überraschend offen: Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft, 2. Aufl. Leipzig

https://www.ekd.de/11-leitsaetze-fuer-eine-aufgeschlossene-kirche-56952.htm

Zum Autor

Georg Lämmlin ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover. Seit 2014 ist er an der Universität Heidelberg als außerplanmäßiger Professor für Praktische Theologie tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kirchen- und Religionssoziologie, Wirtschafts- und Sozialethik sowie Gesellschaftspolitik.