Populismus – gut oder böse?

Über ein neues, altes Phänomen

Eine Analyse des aktuellen Populismus 100 Tage vor der Bundeswahl 2017 von Professor Dr. Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland:

Professor Dr. Gerhard Wegner (Foto: Michael Huisgen)

Wenn man über den (mal wieder) boomenden Populismus nachdenkt, dann ist es möglicherweise hilfreich, nicht sofort mit wissenschaftlich abgesicherten Definitionen zu beginnen, sondern politische Praktiker daraufhin zu befragen, wie sie selbst dieses neue Phänomen erleben. Und was liegt da näher, als sich an Jemanden zu wenden, der selbst erhebliche „volksrhetorische“ Anteile gehabt hat: nämlich an den ehemaligen SPD Vorsitzenden und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er hat bei einer Vorstellung eines Buches über den damaligen SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel Mitte November 2016 in Berlin selbigen neben Horst Seehofer als den „dreistesten Populisten der Republik“ (neben den Vertretern der Linkspartei und der AfD) bezeichnet und ihn dann pointiert als einen „demokratischen Populisten“ porträtiert – und das er das sei, sei seiner Meinung nach auch gut so. Das überrascht angesichts der ansonsten einhellig negativen Einordnungen! Folglich: es gibt nicht nur böse, sondern auch gute Populisten! Und vielleicht, so legt Schröder nahe, ist es sogar so, dass gegen böse nur gute Populisten helfen können. Populismus als solcher ist also gar nicht das Problem und man macht es sich mit einer pauschalen Verurteilung viel zu leicht.

Populismus als politische Strategie

Die Bemerkung Schröders über Gabriel hat mich in einer Überlegung bestärkt, den Ausgangspunkt meiner Populismusanalyse nicht bei einer bereits politisch gerichteten Beschreibung des uns allen Sorgen machenden und die Demokratie bedrohenden Rechtspopulismus zu wählen, sondern mit einem neutralen Populismus-Begriff zu beginnen. Populismus ist eine politische Strategie, die als solche vielfältig genutzt wird und schon immer genutzt wurde. Sie ist zentral durch Aktivierung, Mobilisierung geprägt: einem „Drive“ nach vorne und entsprechend charismatisch geprägt. Ihr Gegensatz wäre – mit ihrem besten Analytiker Ernesto Laclau (Warum Populismus? In: www. zeitschrift-luxemburg.de vom Mai 2014) gesprochen – der Institutionalismus – oder anders gesagt: die Verwaltung! Im Unterschied zu ihr schafft Populismus Identität im Prozess.

Zum Populismus zählen Rhetoriken des Great Deal unter Roosevelt ebenso wie der Peronismus; Franz-Josef Strauß so wie Oskar Lafontaine und viele andere. Ein solcher „neutraler“ Fluchtpunkt der Analyse scheint mir ganz generell umso wichtiger zu sein, als wir es heute in immer weniger gesellschaftlichen Bereichen mit politisch oder moralisch eindeutig zurechenbaren Substantialitäten zu tun haben. Wenige Phänomene wirken von vornherein eindeutig und fast alles kann stets in „inhaltlich“ geradezu gegensätzlicher Weise ausgelebt werden. Man kann sich diese These sehr schön an der Vorstellung von Zivilgesellschaft deutlich machen, die noch bis vor kurzem als Spitze des Fortschritts galt. Seit Pegida und anderen rechten Bewegungen im Bereich der Zivilgesellschaft kann jedoch nichts mehr als etwas Eindeutiges, sondern muss alles als durchaus ambivalente Angelegenheiten betrachtet werden. Anders gesagt: Zivilgesellschaft ist nicht mehr von vornherein als eine allein positive Entwicklung zu bewerten, sondern kann sehr wohl in Richtung Zerstörung von Demokratie, Bedrohung von Menschenrechten und vielem anderen mehr ausschlagen. Gleiches gilt auch für die Vorstellung von Netzwerken aller Art, die ebenso von manchen als egalisierende und umfassende Teilhabe ermöglichende soziale Kooperationsformen gefeiert wurden – aber ebenso politisch völlig abseitig genutzt werden können.

Und genauso ist es mit dem Phänomen des Populismus. Ihn gibt es insbesondere in Demokratien und Republiken, in denen Macht durch Anrufung von und durch Berufung auf „das Volk“ legitimiert wird. Ganz gleich, wie „ehrlich“ diese Anrufung auch immer von den Betreffenden gemeint ist: Die Größe Volk wird auf jeden Fall an der einen oder anderen Stelle artikuliert und damit ist rein formal schon einmal ein erster Bezug auf Populismus gegeben. Solche Bezugnahme auf „Volk“ gibt es deutlich in volksparteilichen, aber natürlich besonders in rechten und rechtsradikalen, aber ebenso auch in linken und linksradikalen politischen Diskursen. Populismus ist in dieser Hinsicht tatsächlich nicht davor gefeit, zum Beispiel in Rechtsradikalismus und damit in die Nähe von terroristischen und extrem menschenfeindlichen politischen Haltungen übergehen zu können. Sobald dies geschieht, ist natürlich eine klare Abgrenzung angesagt, aber sie sollte dann nicht gegenüber dem Populismus als solchem, sondern gegenüber dem Rechtsradikalismus und den Inhalten entsprechender Diskurse erfolgen. Populismus ist folglich ein spezifischer Set von Diskursstrukturen, Symbolen und Ähnlichem, die sich um ein ideologisches Zentrum von Volk/Arbeitern usw. drehen, das sich in sehr verschiedene Richtungen hinein artikulieren lässt. So erinnere ich mich an eine Wahlkampfkundgebung in Hildesheim Anfang der achtziger Jahre, in deren Verlauf Rainer Barzel den linken Parteien den Vorwurf machte, dass sie “die Familien als Sozialisationsagenturen diffamierten.“ Mir ist der Satz im Kopf geblieben, weil ich ihn in seiner dreisten Dummheit so ungeheuerlich fand – aber gleichzeitig in seiner auf die Zustimmung des Volkes zielenden strategischen Ausrichtung auch faszinierend. Das war Populismus pur – indem hier implizit das Volk mit seinem „gesunden Menschenverstand“ gegen den linken intellektuellen Blödsinn angerufen wurde. Entsprechend enthielt Barzel für diesen Satz viel Beifall. Mich schauerte es.

Das schaffende Volk und die Parasiten

Wenn dies nun aber so ist, dann muss es eine Definition des Populismus ermöglichen, sowohl rechten als auch linken, sowohl undemokratischen als auch demokratischen Populismus, identifizieren und differenzieren zu können. Das erscheint nach unserem herkömmlichen negativen Gebrauch des Begriffs Populismus gar nicht so einfach zu sein. Aber es ist dennoch durchaus plausibel. Es geht vordergründig zunächst einmal natürlich um die Anrufung und damit den Versuch der Aktivierung und Mobilisierung des „Volkes“ als einer politischen Größe, die entscheidend die Geschicke des Landes bestimmen soll. Wer Volk sagt, meint damit natürlich stets die Mehrheit, und zwar die übergroße Mehrheit der Bevölkerung und artikuliert diese Mehrheit in der Regel in der ein oder anderen Form gegen „die anderen“ – sei es nun eine korrupte und das Volk ausbeutende Elite oder seien es andere (z.B. ethnische) Gruppen – und deren Themen. Damit sind im politischen Diskurs stets mindestens zwei antagonistischen Gruppierungen angesprochen: das Volk und die Elite bzw. „die anderen“ und es wird demokratisch unterstellt, dass die Regierung nicht der Elite und „den anderen“, sondern eben der Masse der Menschen, dem Volk dienen soll. Signifikant formuliert Timo Soini, der Vorsitzende der Partei die Finnen und seit 2015 finnischer Außenminister: „Gelehrte Theoretiker, arrogante Bürokraten, kaltherzige Technokraten, verständnislose Zentralisierer, Anbeter des großen Geldes und aalglatte Avantgarde- Denker trauen dem Volk nicht. Sie missachten die Ansichten des Volkes, weil sie glauben, das Volk sei dumm und abgestumpft und die Weisheit liegt bei Experten und einer vom Alltagsleben abgeschotteten Elite.“ (zitiert bei Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017, S. 98). In der einen oder anderen Form findet sich solch ein Gegensatz in jedem populistischen Diskurs – sei er nun eher nach rechts oder er nach links gewendet. Es geht stets um eine Anrufung der Menschen gegen das „große Geld“ –  zugunsten des „vergessenen Menschen“ – wie es exemplarisch bei Donald Trump der Fall ist. Aber auch unendlich viele andere Politiker argumentieren entsprechend – mal leiser, mal lauter, mal impliziter, mal ausdrücklicher.

Steigt man tiefer in die entsprechenden Analysen ein, so drängt sich mir ein weiteres Phänomen auf, das – gerade im deutschen Kontext – mit einer klassischen Füllung der Diastase zwischen Volk und Elite zu tun hat: nämlich die Gegenüberstellung von produktiven, wertschöpfenden, arbeitenden Massen – und der das Land (und das Volk) ausnehmenden,  wertabschöpfenden, parasitären Klasse.  In der einprägsamen Kurzfassung (nicht nur) der Nazis:  das „schaffende“ gegen das „raffende“ Kapital. Diese Gegenüberstellung spielt in der deutschen Politik seit dem 19. Jahrhundert eine große Rolle und wird insbesondere von den Nazis als der Gegensatz zwischen den Deutschen und den Anglosachsen, dann insbesondere natürlich gegenüber den Juden dargestellt. Der gesamte, auch schon 200 Jahre lang andauernde, die Identität prägende, Gegensatz zwischen Deutschland und den USA bzw. zwischen der deutschen sozialen Marktwirtschaft und dem amerikanischen Neoliberalismus lässt sich präzise in diese Gegensätzlichkeit einschreiben. Noch Franz Münteferings Rede von den als Heuschrecken bezeichnetem amerikanischen Investmentkapital bringt diese Einstellung prägnant zum Ausdruck. Das Volk sind dann diejenigen, die die Werte schaffen und für den Wohlstand des Landes sorgen – wohingegen „die anderen“ Parasiten sind, die die Werte wegtragen und das Volk um den Ertrag seiner Arbeit bringen. Nun wird man diese Gegenüberstellung in linken Parteien als den klassischen Klassengegensatz zwischen Bourgeois und Proletariat wiedererkennen können – wohingegen man in heutigen sozialdemokratischen Bewegungen die Entgegensetzung nicht mehr so scharf artikuliert findet. Sie ist aber nach wie vor im Kern von Rhetorikern, wie von Martin Schulz oder eben auch Sigmar Gabriel deutlich, wenn auch sehr viel subtiler zu finden. Der „Feind“ ist hier nicht mehr so klar benannt und wird eher in abstrakten Kategorien angegeben (es geht nicht um die Kapitalisten oder Manager sondern abstrakter, z.B. um die Managergehälter, die die Heuschreckenfunktion verkörpern und mittels deren Benennung man das Volk (aus Gründen der Gerechtigkeit) mobilisieren kann).

„Alternative Fakten“ und Narrative

An dieser Stelle ist es möglicherweise angebracht daran zu erinnern, dass man es bei derartigen Diskursen in keiner Weise mit irgendeiner dezidierten Abbildung von Realität im Sinne von Wahrheit und Falschheit zu tun hat. Das was in solchen Diskursen im wahrsten Sinne „besprochen“ wird, bildet nicht einfach irgend eine Wirklichkeit ab –  sie ist ohnehin stets viel komplexer –, sondern es wird eine spezifische, auf den Punkt gebrachte und mit klaren Gegensätzen arbeitende Wirklichkeit geschaffen. Genau darin liegt die große Leistung der entsprechenden Autoren. Im Grunde genommen agieren sie wie Dramatiker oder Romanschriftsteller, die aus vielen Episoden eine zusammenhängende Geschichte basteln. Entscheidend sind darin Erschließungsszenen, in denen sich die Menschen mit ihren Erfahrungen, vor allem ihren Gefühlen, wiedererkennen können und den Redner als „einen von uns“ oder ganz im Gegenteil „als einen der anderen Seite“ identifizieren.

In gewisser Hinsicht ist es folglich durchaus richtig zu sagen, dass mit diesen Methoden „alternative Fakten“ produziert werden –  jedenfalls in der Hinsicht, das grundlegende Erfahrungsdaten durch eine veränderte Rahmung in ein zum Teil völlig anderes Licht als das der herrschenden Meinungen gestellt werden. Dies geschieht zum Beispiel, wie wir auch aus der empirischen Sozialforschung wissen, schlicht dadurch, dass Vergleiche angestellt werden, die den jeweils als zementiert erscheinenden Zustand, als veränderbar darstellen können. Unterschiedlich treten dann z.B. Täter und Opfer auf – wohingegen der Tathergang als solcher unverändert bleibt. Lebensweltliche oder gar analysierende, intellektuelle Distanz als solche wäre hier tödlich. Entsprechende Diskurse wären geradezu das Gegenteil von Populismus – aber vielleicht auch von Politik überhaupt. Der Mobilisierungseffekt erwächst aus genau den Gegensätzen, die in ein entsprechendes spezifisches (stets implizit normatives) Narrativ eingebaut sind oder sich aus ihm ergeben. Gegensätze produzieren weitere Gegensätze.

„Fakten“ als solche (sofern es überhaupt Fakten als solche in der Politik gibt) bedeuten folglich kaum etwas. Entscheidend ist, im Kontext welcher Geschichte (und damit mit welchem emotionalen Interesse und welchem „Drive“) sie erzählt werden. Und das ist nirgendwo so penetrant und so deutlich wie eben im Populismus. Barack Obama hat den grundlegenden Mechanismus in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen ausgedrückt: „Ich denke, eine der wesentlichen Aufgaben politischer Führer ist es davon zu erzählen, was uns Menschen zusammenhält. Was Amerika so einzigartig macht, ist die Fähigkeit, so viele desperate Elemente vereinen zu können.“ (SZ 26. 1. 2017). Das ist in der Tat die Aufgabe der Politik – nur besteht die Fähigkeit, etwas zusammen denken und vereinen zu können in der Regel immer auch darin, anderes auszugrenzen. Einheit und Einigkeit gibt es nicht ohne Abgrenzung gegen andere. Inklusion ist nicht denkbar ohne Exklusion. Die Konstruktionslogik entsprechender politischer Narrative ist deswegen niemals harmlos – niemals nur Vielfalt integrierend – sondern immer zugleich normierend. Die Forderung nach der Anerkennung von Vielfalt meint beileibe nicht, dass alles gültig wäre, sondern eröffnet einen sehr spezifischen Diskursraum, der sich von anderen unterscheidet (So sind z.B. traditionale Haltungen ausgeschlossen).

Wenn sich also der Populismus im Kern stets an die produktive, tragende Schicht der Bevölkerung wendet; sie als benachteiligt beschreibt und gegen spezifische ausbeutende Kräfte zu mobilisieren versucht, dann stellt er eine grundlegende politische Strategie dar, die sich überall in modernen kapitalistisch grundgelegten bürgerlichen Gesellschaften findet. Im deutschen Parteienspektrum ist sie bei den Volksparteien vertreten und wird immer wieder als Instrument genutzt, um politische „Ränder“ einzubinden (Man denke nur z.B. an Gerhard Schröders Rede seinerzeit von den Lehrern als den „faulsten Säcken der Nation“, die ihm wahrscheinlich 2 bis 3 Prozent Wählerstimmen zusätzlich eingebracht hat. Das ist ein ganzer Kerl! Der sagt, was sich andere nicht trauen zu sagen!).  Einzig wahrscheinlich die Partei der Grünen ist vor diesen Versuchungen eher gefeit, da ihr Klassenbezug und ihre spezifische Thematik kaum Akzentuierungen in diese Richtung erlaubt. Das schließt natürlich nicht aus, dass die ökologische Thematik der Grünen in anderen Parteien nur umso heftiger auch populistisch aufgegriffen wird.

Populismus als irrationale politische Reaktion auf Entgrenzung

Wenn diese Analyse stimmt, dann ist es ausgesprochen problematisch, gemeinsam mit konservativen Analysen wie der von Peter Graf Kielmannsegg, eine Definition des Populismus vom Nicht-Vorhandensein von Mindeststandards von Rationalität abhängig zu machen (Populismus ohne Grenzen, FAZ vom 13.2.2017). Zwar gibt Kielmannsegg zu (und insoweit sehe ich hier durchaus Übereinstimmung), dass Populismus stets in einer Demokratie auftaucht und zwar in der Rhetorik und Gestik der Anwälte derer, „die nicht gehört werden. Sie verleihen, so ihr Selbstverständnis, dem Volk eine Stimme gegen die Mächtigen, die Etablierten, die Regierenden.“ Und weiter: „Populismus wird aus dieser Sicht zu einem – nicht eben sympathischen aber doch notwendigen – Mechanismus demokratischer Selbstkorrektur“. Sein produktiver Wert läge folglich darin, die herrschenden Eliten vor der Vernachlässigung bestimmter Themen und der Interessen großer Gruppen der Bevölkerung zu warnen. So wie dies z.B. auch ein Wahlerfolg der NPD bewirken könnte. Einen eigenen problemlösenden Wert habe Populismus jedoch nicht. Er sei reine Rhetorik, reine Ideologie.

Kielmannsegg betont auch, dass über diese Warnfunktion hinaus der Populismus eine tiefe pathologische Dimension besitze, die in der Diffamierung der Demokratie gipfelt. Deswegen: „Von diesem Modell her lässt sich nun Populismus als eine Strategie politischer Mobilisierung verstehen, die den repräsentativ – demokratischen Dialog in einer bestimmten Weise pervertiert, ihn in sein Gegenteil verkehrt. Der Populist tritt nicht in ein Gespräch mit dem Bürger ein, er erklärt sich zum Sprecher des Volkes. Sprecher des Volkes kann nur sein, wer sich mit ihm eins weiß. Es geht um Konsonanz, nicht um Dialog. Und Konsonanz stellt sich her als wechselseitige Bestärkung der Vor-urteile – jenes Meinens also, dass gegen jedes Argument abgeschirmt ist. Kurz gefasst: politische Mobilisierung unter Ausschaltung des Verstandes ist das Programm der populistischen Strategie.“ Populisten wären folglich irrationale Volksverführer.

Allerdings belässt es diese Analyse zum Glück nicht bei der – bezweifelbaren und eher konservativen Instinkten folgenden – Unterstellung von Irrationalität und Ausschaltung des Verstandes als Kern des Populismus. Sie nimmt nämlich in der Analyse der „Warnfunktion“ ernst , dass der populistische Diskurs auf eine spezifische Erfahrung reagiert, die –  auch dies durchaus mit konservativer Ideologie im Einklang stehend – als Erfahrung der Entgrenzung definiert wird. Die Prozesse politischer Entfremdung hinter dem Phänomen Populismus beruhten auf der Aufweichung und Abschaffung von Grenzen. Es seien immer weiter geöffnete nationale aber gerade auch moralische Grenzen – ein Prozess, der von den Eliten erzwungen werde – die dem Volk Angst machen. Stets geht es darum, „dass die Betroffenen, jene die sich als betroffen wahrnehmen, das einer-grenzenlosen-Welt-ausgesetzt-sein in allen seinen Aspekten als Bedrohung empfinden, von der konkreten Bedrohung des Arbeitsplatzes bis hin zur viel unbestimmteren Bedrohung der eigenen Lebenswelt und der Identität des Gemeinwesens, das man als das eigene betrachtet.“ Die Situation wird dann noch bedrohlicher und für die Menschen bedrängender, wenn die eigenen Eliten den Betroffenen Entgrenzung als zwingendes Gebot der Vernunft wie der Moral präsentierten über das man nicht mehr diskutieren könne. (Wahrscheinlich hat Kielmannsegg hier auch die Kirchen in der Flüchtlingskrise im Blick).

Nun lässt sich jenseits von solchen Analysen auch sehr viel allgemeiner als Hintergrund der populistischen Diskurse ein in den letzten Jahren offensichtlich schwächer gewordenes Systemvertrauen konstatieren. Denn das Misstrauen gegenüber den herrschenden Eliten stellt eben auch in der Regel ein generelles mangelndes Systemvertrauen dar. Dies mag durchaus im engeren persönlichen Bereich positiver aussehen. Aber insgesamt, was das Vertrauen in Institutionen und Staaten anbetrifft, sind vielfältige negative Entwicklungen zu konstatieren. So veröffentlichte das Weltwirtschaftsforum Davos 2017 eine ganze Reihe von Umfragen (Davos 2017: Die Menschen trauen den Eliten nicht mehr, FAZ vom 17.1.17) die deutlich belegen, dass in den großen westlichen Ländern der Anteil derjenigen Menschen die glauben, dass das System nicht mehr funktioniert über 50 Prozent liegt – in Italien bei 72 Prozent , Großbritannien 60 Prozent, Deutschland 62 Prozent , Frankreich 72 Prozent , Vereinigte Staaten 57 Prozent . Einzig in China und Indien sieht es anders aus: hier überwiegen die Anteile derjenigen die der Regierung vertrauen. Der Anteil der Bevölkerung, der Firmenchefs für glaubwürdig hält, liegt in sehr vielen Ländern unter einem Drittel – ein wenig anders ist es nur in ärmeren Ländern. Bezogen auf die gesamte Welt liegt des Vertrauen in Firmenchefs bei 37 Prozent , der Anteil des Vertrauens in die Regierung liegt bei 41 Prozent und des Misstrauens bei 53 Prozent . Ähnliche Daten ergab eine Studie des SI der EKD zu Europa (Solidarität in Europa. Anfang November 2016. www.si-ekd.de): Demgemäß findet sich nur bei Jüngeren ein überwiegendes Vertrauen zu europäischen Institutionen. Ansonsten liegt das Vertrauen bei nur 39 Prozent . Lediglich unter den Anhängern der SPD erreicht es 53 Prozent  – liegt aber bei den Linken und den AfDlern bei nur 23 Prozent bzw. sogar nur 11 Prozent. Bei Geringverdienenden (bis 1500 Euro) erreicht es nur etwa 50 Prozent der besser Verdienenden (3500 Euro und mehr = 49 Prozent ) Ähnlich, wenn auch nicht drastisch, verhält es sich beim Vertrauen in Bundestag und Bundesregierung (bis 1500 Euro bei 39 bzw. 37 Prozent). Das Potenzial für populistische Anrufungen der Mehrheit der Menschen ist folglich in den westlichen Ländern beträchtlich.

Zur Funktionsweise (populistischer) politischer Mobilisierung

Wie lässt sich nun die Wirkungsweise des Populismus in die Dynamik politischer Massenmobilisierung einsortieren? Dieses Problem kann man gut vor dem Hintergrund einer weiteren Frage diskutieren. Nämlich: Warum ist es angesichts krisenhafter Massenerfahrungen von Menschen mit dem demokratischen System und der Entwicklung Deutschlands nicht zu einer nach links, sondern nach rechts tendierenden Mobilisierung gekommen? Eigentlich ist dies die entscheidende Frage überhaupt. Sie zu stellen bedeutet von vornherein Abschied zu nehmen von jeder substanziellen Zurechnung von spezifischen Problemlagen und ideologischen Antworten oder auch Klassenlagen nach links oder rechts. Nur wenn man nach wie vor in einer schematischen Zurechnung von spezifischen politischen Optionen nach Klassenlagen denkt, können einen entsprechende Entwicklungen wundern. In ihrer Wählerbasis und vor allen Dingen dem Resonanzraum, den sie aufschließen, erreichen sie in einem beträchtlichen Ausmaß die klassisch Benachteiligten, sprich die „Arbeiter“. Die Vorstellung davon, dass Arbeiter aus ihrer Lage heraus dazu prädestiniert wären, links zu wählen ist mit diesen Ergebnissen überholt. Politische Identitätsfindung vollzieht sich nicht quasi ontologisch aus der eigenen sozialen Lage sondern resultiert aus einer Anrufung, wie sie oben bereits dargestellt worden ist. Aber wie vollzieht sich dieser Prozess genau?

Um diese Frage zu beantworten benötigt man eine Art Modell politischer bzw. überhaupt Engagement bezogener Mobilisierung und d.h. der Selbstkonstituierung politischer sozialer Praxis. Ein solches hat Hartmut Rosa gemeinsam mit Kollegen in der Analyse der Aktivierung für ehrenamtliches Engagement vorgelegt (Michael Corsten, Michael Kauppert, Hartmut Rosa, Quellen bürgerschaftlichen Engagements. Die biografische Entwicklung von Wir-Sinn und fokussierten Motiven. Wiesbaden 2008, S. 222 ff).  Hier werden – grob zusammengefasst –  drei Stadien bzw. Dimensionen analysiert, aus deren Durchlaufen sich eine engagierte politische soziale Praxis ergeben kann. Dazu gehört:

  • Eine empfundene deutliche Störung der Wir-Intentionen bzw. des Wir-Gefühls der betroffenen Menschen. Das setzt ein gewisses vorgängiges Wir-Bewusstsein voraus. Alleine individualisierte Lebensformen bieten hierfür zu wenig Resonanzraum.
  • Der Transfer dieser Störungsempfindung auf eine umfassendere politische Ebene. D.h. die Störung wird als Störung des gesamten Gemeinwesens und in dieser Hinsicht als Störung des Gemeinwohls empfunden und damit dramatisiert.
  • Schließlich braucht es das Vorhandensein von Engagementmöglichkeiten, damit sich eine tatsächlich relativ kontinuierliche politische Praxis herausbilden kann. Das impliziert Kräfte, die die betreffenden Erfahrungen artikulieren und ebenso „organisieren“.

Die Analyse dieses Prozesses vollzieht sich unabhängig von irgendwelchen Inhalten – sie kann sich demokratisch stabilisierend aber auch zersetzend auswirken. Gerade deswegen ist sie sehr gut geeignet, die Entwicklungsprozesse in rechtspopulistischen Bewegungen, wie der AfD in Deutschland oder auch von Situationen in Frankreich oder Österreich, zu beschreiben. Sie macht deutlich, dass die Anrufung von entsprechenden Ungerechtigkeits-Erfahrungen nur dann funktionieren kann wenn sie auf vorhandene Dispositionen der Menschen stößt, d.h. mit gefühlten Störungen der eigenen Lebenswelt korrespondiert. Damit ist von vornherein eine konservative Sichtweise abgelehnt, die davon ausgehen würde, dass die entsprechenden Menschen als passive, irrational Reagierende von populistischen Ideologen missbraucht würden. Obwohl dies natürlich im konkreten auch immer der Fall sein wird, muss man generell davon ausgehen, dass auch im Fall entsprechender Mobilisierung durch die AfD auf eine tatsächliche Empfindung von Missständen in der Bevölkerung „konstruktiv“ zugegangen wird. Dass dies nur funktionieren kann, wenn die Missstände zugespitzt, dramatisiert und damit besonders deutlich artikuliert werden, liegt dabei auf der Hand und ist ein Kennzeichen aller gelingender politischer Mobilisierung, die insofern fast immer etwas Populistisches an sich hat.

In der Folge führt ein solcher Prozess zu im Übrigen durchaus positiven demokratischen Entwicklungen, als sich mit ihm größere Wählerbeteiligungen und damit zunächst einmal eine Ausweitung von demokratischer Teilhabe ergibt. Dies macht allerdings – noch einmal gesagt – die Frage noch viel drängender, wieso eine entsprechende Aktivierung von rechts her gelingt und nicht vielmehr von links. Oder sollte es tatsächlich so sein, dass es bestimmte Erfahrungswelten gibt, die sich politisch nur in einer Richtung einordnen und besetzen lassen? Der aktuelle Rechtspopulismus entzündet sich vor allem an Sicherheits- und Identitätsfragen. Sind das notwendigerweise „rechte“ Themen?

Defizite liberaler und linker Diskurse

Die nächste Frage ist nun, ob es besondere Qualitäten des populistischen Diskurses gibt, die ihn für die Anrufung spezifischer Ungerechtigkeits-Erfahrungen vernachlässigter aber im Selbstverständnis höchst produktiver Menschengruppen als besonders gut geeignet – und andere, hier liberale, Diskurse eher ungeeignet erscheinen lassen. Hier könnte ein Faktor eine Rolle spielen, der in der Diskussion um den Populismus in einer Reihe von Beiträgen prominent geworden ist: nämlich die Artikulation von Einfühlungsvermögen und Empathie im populistischen Narrativ. So werfen eine Reihe von liberalen und demokratischen amerikanischen Autoren der Führung ihrer eigenen Partei mangelndes wechselseitiges Einfühlungsvermögen vor, weswegen die Wahl gegen Trump verloren wurde. Der gravierende Verlust des Einfühlungsvermögens zwischen linken und liberalen Eliten und Teilen der „arbeitenden“ und „vernachlässigten“ Bevölkerung konnte von den Populisten ausgenutzt werden. So die immer wiederkehrende Behauptung, die auch in Deutschland anzutreffen ist und die sich in der These von der Abkopplung der politischen und sonstigen Eliten von der emotionalen Lebenswelt der übrigen Bevölkerung verdichtet. Das Ergebnis sei, dass sich ein wachsender Teil der Bürger von den gewählten Repräsentanten nicht mehr vertreten fühle (Für die USA: Christine Landfried und Robert Post, Schluss mit den Schönfärbereien, FAZ vom 11.3. 2017; für Deutschland: Dirk Jörke und Nils Heisterhagen, Was die Linken jetzt tun müssen, FAZ vom 26. 1. 2017). Keine Demokratie könne jedoch ohne eine empathische Dimension tatsächlich überleben. Institutionenvertrauen benötige entsprechende reziproke Mechanismen.

Den Populisten wird dann allerdings unterstellt, dass sie mit den entsprechenden empathischen Diskurselementen lediglich missbräuchlich taktisch spielen würden, um das Volk auf ihre Seite zu bringen. Tatsächlich aber würden sie eine gegenteilige Politik der Ausnutzung des Volkes betreiben. Allein die liberalen und linken Kräften würden die Bürger tatsächlich ernst nehmen. Aber ist diese These wirklich so schlicht aufrechtzuerhalten? Lässt sich den Populisten von vornherein eine betrügerische Absicht unterstellen? Und sind die Linken folglich dem Volk näher? Hier scheint denn doch das positive eigene Selbstbild die Analyse zu vernebeln. Der gängige Satz von den nur „allerdümmsten Kälbern, die ihre Schlächter wählen würden selber“, widerspricht fundamental dem ja ansonsten bei den Linken stets anzutreffenden Vertrauen in die eigenständige Kraft des Volkes. Hier wird der Betrugsverdacht, der sich im populistischen Diskurs gerne gegen die Herrschenden findet, verdoppelt.

Aber erkennbar gibt es tatsächlich eine beträchtliche linksliberale Distanz zur Realität des Alltagslebens des Volkes – so insbesondere in Stilisierungen einer herrschaftsfreien Kommunikation als Voraussetzung für Demokratie oder gar der Bereitschaft zu betont rationaler Deliberation als conditio sine qua non einer politisch funktionierenden Öffentlichkeit. Niemand im „Volk“ oder gar unter denen die sich in irgendeiner Weise noch den „ Arbeitern“ zuordnen würden, hat auch nur Ansätze der Illusion, dass es so etwas wie herrschaftsfreie Kommunikation überhaupt geben könnte. In der dauernden habituellen und gestischen Stilisierung entsprechender Verhaltensweisen als Voraussetzung der Teilnahme am politischen Diskurs errichten die Linksliberalen Zugangsmauern, die die tatsächliche Teilhabe der meisten Menschen unmöglich machen und auf diese Weise Exklusionen hochmauern. Das Problematische ist, dass dies im Bewusstsein vollster moralischer Überlegenheit geschieht.

Entscheidend in der Diskussion dieser Fragen in den letzten Wochen und Monaten ist dann die Auseinandersetzung über die Behandlung spezifischer „Vielfaltsthemen“ in den liberalen und linken Diskursen. Hier ist es in den letzten Jahren zu einer Entgrenzung auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel im Bereich der Genderthematik, gekommen. Ein Fall wäre die tendenzielle Preisgabe der dualen Geschlechterordnung in Richtung vielfältiger Geschlechtermöglichkeiten. Ähnliches hat sich auch im Bereich der Affirmation von Familienformen vollzogen und dies an dieser Stelle auch noch sehr deutlich erkennbar mit einem neoliberalen Hintergrundpush, was die gleichzeitige Aufwertung und Ausnutzung der Frauen anbetrifft. Gerade in Bezug auf das Thema Familie wirkt die gesamte aktuelle Modernisierungsdiskussion ausgesprochen ambivalent, da sich in der Aufweichung klassischer Familienstrukturen sowohl neoliberale Wirtschaftsinteressen in Richtung der Formierung individualisierter Kunden und Kundinnen als auch pointierte Emanzipationsinteressen aus einem klassisch linksliberalen Diskurs überschneiden. Ganz gleich allerdings, wie man diese Gemengelage im Einzelnen analysiert: es liegt auf der Hand, dass damit für traditionale Lebensformen eine beträchtliche Entgrenzung und damit ein gewisses Bedrohungspotenzial einhergeht. Wie weit es greift, ist allerdings schwer einzuschätzen. Auch rechtspopulistische Bewegungen akzeptieren mittlerweile Homosexualität etc. (Selbst bei den Nazis gab es das!). Entscheidend scheint hier zu sein, dass die neuen Formen von den liberalen Eliten mit einer erheblichen moralischen Vehemenz vorangebracht werden, die in traditionalen Verhältnissen als Exklusionsgeste verstanden werden können. Auch hier stellt sich die Frage, ob entsprechende Thematiken notwendigerweise anti rechts – oder linkspopulistisch wirken oder in spezifische Diskurse integrierbar sind.

Wer sind die Populisten?

Bleibt nun die Frage, wer sich überhaupt in der beschriebenen Art und Weise populistisch „anrufen“ lässt. Deutlich ist, dass es eine derartige Anrufung gibt, mittels derer Menschen zu politischen Akteuren gemacht werden bzw. sich selbst machen. Vorausgesetzt ist allerdings, dass sich Menschen finden lassen, die dazu bereit sind, sich auf die entsprechenden Diskurse und Symbole einzulassen. Wer sind diese Menschen? In den entsprechenden Diskussionen, in denen die soziale Basis bzw. die Klassenbasis der Populisten diskutiert werden, finden sich, grob gesagt, zwei unterschiedliche Diskurslinien:

Die eine Linie, die eine ganze Zeit lang die Debatte dominierte, identifiziert das Potenzial der rechten Populisten im klassischen Arbeitermilieu und damit im traditionellen Wählerpotenzial der Linken. Diese Analyse hat einen Höhepunkt in dem Buch von Didier Eribon: Rückkehr nach Reims (Berlin 2016) gefunden. Hier beschreibt der Schüler von Pierre Bourdieu seine Rückkehr nach Jahrzehnten der Abwesenheit in sein proletarisches Heimatmilieu in Reims und muss erschreckt wahrnehmen, dass die ursprünglich kommunistisch und sozialistisch wählenden Arbeiter mittlerweile den Front National als ihre politische Heimat entdeckt hätten. Er analysiert die Gründe für diesen epochalen Wandel und kommt zu dem Ergebnis, dass die klassischen Arbeiterparteien durch die Übernahme von neoliberalen Reformideen und Gedankengängen den Bezug zu ihrer eigenen sozialen Basis verraten hätten. Diese Analyse knüpft an entsprechende Kritiken der Agenda 2010 bzw. des Schröder-Blair-Papiers und anderer politischer Reformen der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien um die Jahrtausendwende an.

Die Analyse appliziert dementsprechend eine schon länger vorhandene Narration auf das Phänomen des Rechtspopulismus, indem sie die These von der Abwanderung der eigenen Basis von den sich von ihr längst entfernten politischen Führern entwickelt. Was sie sehr viel schwieriger erklären kann, ist, wieso Arbeiter nunmehr Menschen wählen, die nach aller Erfahrung ganz und gar nicht auf ihrer Seite stehen. Hier scheut sich die Analyse vor entsprechenden Konsequenzen, die, wie schon oben dargestellt, in die Richtung gehen müssten, dass die neoliberal-sozialdemokratischen Reformen tatsächlich zu einer massiven Verunsicherung in den Lebenswelten der Arbeiter gerade dort geführt hätten, wo sie besonders progressiv gewesen wären. Durch sie fühlen sich offensichtlich diese Kreise elementar bedroht und in einer Weise einer für sie destruktiven Freiheit ausgesetzt, dass sie in dieser Situation zur Wiedergewinnung eigener Sicherheit bereit sind, autoritäre und diktatorische Regime hinzunehmen.

Dass eine solche Mentalität in der Arbeiterklasse nicht unmöglich ist, wird in entsprechenden Analysen noch weiter dadurch untermauert, indem man die linke sozialdemokratische und kommunistische Grundprogrammatik als im Kern illiberal analysiert; d.h. als schon immer in einer gewissen Distanz zu einer bürgerlich-liberalen Freiheitsideologie als solcher befindlich. So hat Oskar Lafontaine darauf hingewiesen, dass die Forderung nach offenen Grenzen nicht notwendigerweise aus einer linken, sondern eben aus einer liberalen Tradition käme. Die Entgrenzung von Räumen mit dem Interesse der Schaffung freizügigen Personenverkehrs liege großenteils eher im Unternehmerinteresse – wie es ebenso der grenzenlose Kapitalverkehr und der Freihandel sei. Nikolaus Piper hat (Nützlichkeitsrassismus, SZ vom 17. Februar 2017) in dieser Richtung darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Kritik ja schon im kommunistischen Manifest von 1848 zu lesen sei. In der Geschichte der Arbeiterbewegung habe es immer Parteien und Gewerkschaften gegeben, die sich explizit gegen Einwanderer und andere abgegrenzt hätten. Auch der DGB hätte sich zum Beispiel nach der Rezension 1973/74 massiv für einen Anwerbestopp für ausländische Arbeiter eingesetzt. Nimmt man diese Tendenzen mit der letzten Konsequenz eines „Nationalbolschewismus“ in den Blick und schaut dann auch noch einmal tiefer in Tendenzen eines alltäglichen Rassismus unter Arbeitern hinein, dann werden entsprechende Wählerumorientierungen von den Linken zu den rechten Parteien gar nicht mehr so unwahrscheinlich.

Die politische Empfehlung an die Linken aus einer solchen Analyse heraus liegt denn auch auf der Hand: Die entsprechenden Parteien müssen sich wieder deutlicher von der neuen kosmopolitischen Klasse der Gewinner distanzieren und sich den Vergessenen, Abgehängten oder Modernisierungsverlierern zuwenden. Dafür sei das Thema soziale Gerechtigkeit sehr gut geeignet. Allerdings machen die Analysen auch deutlich, dass diese Hinwendung kein einfacher Prozess ist, denn die betreffenden Anhänger rechtspopulistischer Bewegungen betonen eine Abkehr von weiteren Entgrenzungen, Globalisierungen und Internationalisierungen und eine deutliche Hinwendung zu neuen Formen des Ethnozentrismus bzw. zu kommunitaristischen Werten. Besonders große Bedeutung hat eine forcierte Gemeinschaftsrhetorik, die aber mit den fusionierten postmodern-neoliberalen-emanzipatorischen Freiheitsdiskursen wenig gemein hat. Dies stellt ein großes Problem dar, da damit die Gefahr besteht, dass so wichtige Diskurse wie Antidiskriminierungspolitik, Vielfalt und politisch korrekte Sprache nicht mehr im Vordergrund der Politik der Linksparteien stehen könnten. Deutlich wird aber im Umkehrschluss, dass diese Anliegen sich wunderbar mit dem Neoliberalismus vertragen, „insofern die Rechte des Marktes und die Rechte des Individuums sich ergänzen. So sind die Linken, ohne es zu begreifen, in die Falle der Identitätspolitik gelaufen.“ (Dirk Jörke und Niels Heisterhagen in der FAZ vom 26. Januar 2017).

Diese „Arbeiterverratsanalyse“ ist nun allerdings in den letzten Wochen durch eine genauere Untersuchung der Wählerbasis und des Resonanzraums der AfD in Deutschland infrage gestellt worden. Diese Analyse, die insbesondere von einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) (Marc Felix Serrao, Die ängstliche Mitte, FASZ 19.3.17 und allgemeiner zur Situation der Mittelschicht: Alexander Hagelüken, Boom ohne Boomer, SZ 2. April 2017) befeuert wird, betont, dass das Wählerpotenzial der AfD durchaus nicht auf Arbeiter zu reduzieren sei, sondern im Gegenteil große Teile der Mittelschicht umfasst. Dies unterscheide sie allerdings von ihren französischen Partnern. Ende 2013 (damals noch mit Lucke) machten die AfD-Anhänger mit hohem Bildungsniveau noch deren größte Sympathisantengruppe mit 38 Prozent aus. Ein mittleres Bildungsniveau erreichte damals 35 Prozent. Und ein Niedriges dementsprechend 27 Prozent. Die Zahlen von 2016 zeigen eine Stärkung der Mitte, wobei nun 55 Prozent der Anhänger ein mittleres Bildungsniveau, 25 Prozent ein hohes und 20 Prozent ein niedriges hätten. Das durchschnittliche Nettoeinkommen lag 2014 bei etwa 2500 Euro im Monat. Dies sank, liegt heute bei 2200 Euro und damit 10 Prozent über dem Durchschnitt der Deutschen. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. März 2017). Ein besonders hoher Zuspruch von Arbeitern und Arbeitslosen sei nicht festzustellen – allerdings lägen die Wahlergebnisse der AfD in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit besonders hoch.

Die Analyse gipfelt dann darin, dass nicht die soziale Basis entscheidend für die Affinität zum Populismus sei, sondern die Angst vor der Zukunft. Die größten Sorgen – weit überproportional gegenüber der Verankerung dieser Sorgen in der Gesamtbevölkerung – macht das Thema Zuwanderung; dann die Entwicklung der Kriminalität; der soziale Zusammenhalt und die eigene Altersvorsorge aus. Die Sorge vor der Entwicklung von Ausländerfeindlichkeit werden demgegenüber deutlich geringer als in der Bevölkerung insgesamt veranschlagt.

Diese Analyse, die die Klassenbasis der Rechtspopulisten in der Mittelschicht lokalisiert, lässt sich nun hervorragend in eine klassische “linke“ Deutung einbauen, die als Alternative zur Arbeiterverratshypothese gelten kann. Sie ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Analysen die auf eine Reduktion der Mittelschicht insgesamt aufgrund einer zunehmenden Bedrohung ihrer materiellen Grundlagen durch die neoliberale Expansion hindeutet. Wie schon am Ende der Weimarer Republik reagiere die Mittelschicht auf die Bedrohung ihrer Lebensgrundlagen mit einer Hinwendung nach rechts und sucht ihr Heil in einer Befestigung ihrer Lebenssituation durch autoritäre Optionen. Der Aufstieg der Populisten geht folglich zwangsläufig mit einem Niedergang der Mittelschicht einher. Das eine reagiert auf das andere. Diese Sichtweise bringt die klassische Deutungswelt der linken Analytiker wieder ins Lot, als sie weiterhin die Deutungsmöglichkeit einer klassenbedingten Affinität der Arbeiterklassen zu sozialistischen Optionen offen lässt und den Feind dort lokalisiert, wo man ihn schon immer vermutet hat.

Aber: Gibt es so etwas wie eine Arbeiterklasse überhaupt noch? Ist sie nicht ein Scheinriese, der von Eribon u.a. künstlich aufgeblasen wird? Vernachlässigte und Abgehängte, den „white trash“ in den USA, gibt es auch unter Angestellten, Kleinunternehmern oder Freiberuflern (vergl. Thomas Steinfeld, Wenn sein starker Arm es will, SZ vom1/2. 4. 2017).

Welche der entsprechenden Analysen stimmt? Man könnte beide Analysen gut dadurch miteinander versöhnen, als die erster auf Frankreich und die zweite auf Deutschland zutreffen könnte. Anders allerdings ist es dann z.B. in Österreich. Es könnte auch sein, dass die Differenz beider ‚Arbeiter-Analysen‘ in einer spezifischen Hinsicht gar nicht so groß ist: nämlich was die Existenz eines Bereiches der Arbeiterklasse anbetrifft, den man herkömmlich als Arbeiteraristokratie bezeichnet hat. Damit ist die Existenz eines spezifischen Teils der Arbeiterklasse bezeichnet, dem es in der Vergangenheit aufgrund der Politik sozialdemokratischer Parteien gelungen ist, einen Aufstieg innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in die Mittelschicht hinein zu erreichen. Es könnte gut sein, das es genau diese Gruppe ist, die sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die Prozesse in Richtung Populismus vorantreibt.

Daten aus dem SI (Petra-Angela Ahrens, Skepsis und Zuversicht. Wie blickt Deutschland auf Flüchtlinge? Hannover 2017) identifizieren ein im Blick auf die Flüchtlingsproblematik prinzipiell als skeptisch ansprechbares Potenzial eher bei wirtschaftlich und bildungsmäßig schlechter Gestellten (S. 18). Hier dominieren die bereits  genannten Sorgen vor Unsicherheit und der Gefährdung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen (S.30) in eins mit der Angst vor einer Dominanz der Muslime im Alltag. „Nachdenklich stimmt, dass der viel diskutierte wachsende Rechtsextremismus sogar am häufigsten als Sorge genannt wird, gleichzeitig aber nicht etwa zu einer skeptischeren Perspektive beiträgt.“ (S. 65) – was umgekehrt bedeutet, dass man ein wenig davon offensichtlich einkalkulieren kann. Andere, besser Gebildete und finanziell gut Dastehende, betrachten demgegenüber z.B. kulturelle Bereicherung durch Flüchtlinge als etwas Positives. Sie engagieren sich auch deutlich häufiger für Flüchtlinge (S. 43). „Es kommt also auch darauf an, inwieweit die sozioökonomischen Voraussetzungen gegeben sind, sich eine ‚zuversichtliche‘ Perspektive ‚leisten‘ zu können.“ (S. 66). Zugleich demonstriert die Europa–Studie des SI, dass das Thema soziale Gerechtigkeit (= Armut und Ungleichheit bekämpfen) quer durch alle politischen Lager und alle Einkommensgruppen Zustimmung findet: Insbesondere die EU sollte sich dessen wesentlich deutlicher annehmen (Chart 13 und 14).

Folgerungen

Was lässt sich nun aus dieser Analyse des Populismus schlussfolgern? Zunächst einmal bestätigt sich, was auch eingangs schon betont wurde, dass sich beim Populismus nicht um eine substantielle politische Option handelt, sondern um eine Strategie der Machtgewinnung die im Kern stets mit der Anrufung des produktiven Kerns der Bevölkerung gegen parasitäre Eliten operiert. Solch eine Strategie kann dann erfolgreich sein, wenn es zumindest Teile dieses produktiven Kerns gibt, die sich in ihren Wir-Intentionen, d.h. in ihrem Gemeinschaftsgefühl, irritiert erleben. Genau dies scheint mit dem massenhaften Zustrom von Flüchtlingen in Deutschland ab 2015 eingetreten zu sein – in der Folge und im Zusammenhang mit noch sehr viel weitergehenden verunsichernden Entgrenzungen. Gegen solche angstmachenden Erfahrungen bietet der rechtspopulistische Diskurs Schutz und Sicherheit durch die Berufung auf die Nation. Es wird folglich eine Art von übergreifender Gemeinsamkeit konstruiert, die in der Geschichte schon häufiger als letzter Fluchtpunkt in Bedrohungen angerufen worden ist. Solch ein Prozess ist immer ambivalent – und zwar egal ob links oder rechts. Sehr treffend Ernesto Laclau: „Es ist naiv zu glauben, die rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurse der Rechten seien durch und durch reaktionär – auch in ihnen gibt es Anrufungen von realen Bedürfnissen und Ansprüchen der Subalternen, die eben mit reaktionären Elementen verknüpft sind.“ (siehe oben).

Mir scheint es wichtig zu sein, dass diese Situation initial zunächst einmal als eine im Prinzip offene Situation wahrgenommen wird, auf die rechte aber auch linke oder andere politische Strategien populistisch antworten können und auch antworten sollen. Gegen den rechten Populismus scheint nur ein linker, beziehungsweise demokratischer Populismus tatsächliche Wirkung erzielen zu können. Nur durch die klare Anrufung von Themen der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalts sowie der Aufwertung des produktiven Kerns der Gesellschaft lässt sich dem rechten Populismus Wasser abgraben. Offen bleibt bei dieser Strategie allerdings, wie weit sich das für die betreffende Klientel so ungeheuer wichtige Thema Sicherheit – und zwar innere wie auch äußere Sicherheit, inklusive der Sicherheit vor moralischer Überforderung – tatsächlich “links“ aufgreifen lässt. Hier liegen beträchtliche Probleme vor, da sich der linksliberale Diskurs der letzten Jahrzehnte von entsprechenden Sicherheitskonzepten autoritärer Art verständlicherweise vollkommen entfernt und hin zur Akzeptanz von breiter Toleranz und Vielfalt entwickelt hat. Er stößt folglich auf unproblematische Resonanz bei besser verdienenden und gebildeteren Schichten – verliert aber das „Volk“ aus dem Blick.

Wenn dem so ist, folgt, dass mit der Existenz eines Rechtspopulismus auf Dauer zu rechnen sein wird. Der rechtspopulistische Diskurs ruft spezifische Erfahrungen an, die in einer weiterhin immer unsicherer werdenden Welt – und zwar sowohl was innere moralische als auch was äußere Sicherheitsinteressen anbetrifft – virulent bleiben werden. Eine überzeugende liberale Strategie, die die Ängste dieser Menschen artikulieren könnte, ist im Großen und Ganzen schwer erkennbar. Tatsächlich bieten sich hier aktuell lediglich Strategien der CSU oder möglicherweise aber auch des „nationalbolschewistischen“ Flügels der Linkspartei an. Wie weit die gegenwärtige entsprechende Mobilisierung der SPD mit Martin Schulz reichen kann, wird man sehen. Der populistische Gestus jedenfalls stimmt. Entscheidend ist, wer bestimmt, wer „WIR“ sind. Non veritas, sed communitas facit auctoritas.

Weiter in dieser Richtung:  Ernesto Laclau, On Populist reason, 2007

Zum Autor

Gerhard Wegner ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg und seit Gründung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 2004 Institutsdirektor. Seit Juni 2016 ehrenamtlich tätiger Vorstandsvorsitzender des Niedersächsischen Bundes für freie Erwachsenenbildung und seit 2014 im Vorstand des Studienzentrums der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie. Er ist im Kuratorium der Stiftung Sozialer Protestantismus und im Beirat von Denkwerk Demokratie. Zudem ist er ständiger Gast der Kammer der EKD für soziale Ordnung und er ist Mitherausgeber einer ökumenischen Reihe, „Theologie und Praxis“.