Religiosität schützt nicht vor Vorurteilen

Mit Religion im Spannungsfeld von Rechtspopulismus und gesellschaftlichen Zusammenhalt beschäftigt sich Professor Dr. Gert Pickel in einem „Standpunkt“. Auch wenn Christinnen und Christen mit Nähe zum Rechtspopulismus deutlich in der Minderheit sind, prägen sie seiner Ansicht nach das Bild vom Christentum in Deutschland manchmal fast so stark wie jene, die einen zentralen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.  

Von Professor Dr. Gert Pickel

Gert Pickel
Professor Dr. Gert Pickel

Betrachtet man aktuelle Demonstrationen der Querdenker oder von Pegida sowie Aussagen von AfD-Politikerinnen und Politikern, dann drängt sich einem der Eindruck auf, dass entweder das christliche Abendland gegen „andersgläubige Horden“ verteidigt werden muss oder das Ende der Welt nur durch Gebete verhindert werden kann. Religiöses scheint also im Spektrum des Rechtspopulismus durchaus eine Rolle zu spielen, selbst wenn sich die Verantwortlichen der christlichen Großkirchen in Deutschland bewusst und deutlich von den genannten Bewegungen abgrenzen. Da stellt sich die Frage, inwieweit und warum religiöse Menschen möglicherweise rechtspopulistische Politik und Parteien unterstützen?

 

Ambivalente Wirkung religiöser Zugehörigkeit

Ergebnisse aus Bevölkerungsumfragen sind hier zumeist uneindeutig. So wirkt sich die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche weder positiv noch negativ auf im rechtspopulistischen Spektrum gepflegte Haltungen und Vorurteile aus. Doch dies ist auch nicht neu. Bereits der Sozialwissenschaftler Theodor Adorno und der Sozialpsychologe Gordon Allport arbeiteten die ambivalente Bedeutung von Religion auf Vorurteile und Ethnozentrismus heraus. Und gerade letzterer ist für das nationalistische Denken von Rechtspopulistinnen und -populisten von zentraler Bedeutung, resultiert doch ihr Erfolg in Europa aus den letzten Jahren maßgeblich aus einer klaren nationalistischen, ethnozentrischen Positionierung. Zusammengefasst: Eine Religionszugehörigkeit, wie übrigens auch eine hohe persönliche Religiosität, schützt nicht grundsätzlich vor Vorurteilen, Ethnozentrismus und Offenheit für Ideen der extremen Rechten. Damit ist Religiosität auf den ersten Blick nun natürlich auch nicht zwingend ein Faktor, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Denn dieser wird durch die auf Vorurteile und Ethnozentrismus zielenden Rechtspopulistinnen und -populisten gezielt angegriffen, leben sie doch von Konflikt, Abgrenzung und Fundamentalopposition. Gleichzeitig kann man diese ambivalente Wirkung von religiöser Zugehörigkeit und Religiosität auch positiv deuten: Anders als mancher zuletzt auch vermutet hat, sind Religionen auch an sich keine Spalter der Gesellschaft.

Wahlverwandtschaften mit dem Rechtspopulismus

Greift man auf die bereits erwähnten Bevölkerungsumfragen, zum Beispiel die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 oder eine Studie zu religiösen Identitäten 2019 zurück, dann zeigt sich die Grundlage der Ambivalenz: Wie in der Gesellschaft finden sich in Religionsgemeinschaften unterschiedliche Gruppen. So positionieren sich pluralistisch denkende religiöse Menschen, die sich aktiv in ihren Kirchengemeinden engagieren überwiegend in deutlicher Distanz zu Rechtspopulistinnen und -populisten. Oft sind sie zum Beispiel nach 2015 aktiv in der Arbeit mit Geflüchteten engagiert gewesen. Auf der Gegenseite stehen dogmatisch bis fundamentalistisch denkende Christinnen und Christen. Ihnen gehen gewisse Öffnungs- und Modernisierungsprozesse der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu weit. Aus dieser Haltung ergeben sich teilweise Wahlverwandtschaften zu Rechtspopulistinnen und -populisten, zum Beispiel in der Ablehnung einer Ausweitung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Homosexualität, Transsexualität usw.) oder auch hinsichtlich der Verschiebungen in der religiösen Landschaft durch Migration. Die Übereinstimmung in diesen Zielen, zum Beispiel ein ähnliches Verständnis der Stellung von Frauen in der Gesellschaft, bilden Brücken zwischen dogmatisch denkenden Christinnen, Christen und Rechtspopulistinnen, Rechtspopulisten.

Aus dieser Darstellung lassen sich nun Hinweise ableiten, warum die Wirkung von Religiosität auf ethnozentrisches Denken und die Nähe zu Rechtspopulistinnen und -populisten ambivalent ist – es gibt mindestens zwei Gruppen, die sich in Teilen egalisieren. Wenn vielleicht nicht unbedingt in der Größenordnung, sind doch dogmatisch bis fundamentalistisch denkende Christinnen und Christen eine deutliche Minderheit, so doch in der Personengruppe, wo eine hohe Religiosität vorherrscht und Religion für den Lebensalltag von starker Bedeutung ist. Folglich ist das Verständnis der eigenen Religion und Religiosität für die Haltung zum Rechtspopulismus entscheidend. Warum ist dies nun aber überhaupt bemerkenswert?

Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Verschiedene wissenschaftliche Analysen belegen, dass gerade die aggressive und mit vielfältigen Abwertungen verbundene rechtspopulistische Politik den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. So legen es Rechtspopulistinnen und -populisten bewusst auf eine Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft an, um auf diese Weise Wählergruppen für sich zu mobilisieren – und auch dauerhaft zu binden. Dabei treffen sie durchaus auf Nachfrage in der Bevölkerung. Wenn 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler der rechtspopulistischen AfD Vorurteile und Abwertungen gegenüber Musliminnen und Muslimen äußern und eine Verschwörungsmentalität, also eine große Offenheit für Verschwörungsmythen, aufweisen, dann zeigt sich das Potential der extremen Rechten in der deutschen Bevölkerung. Nimmt man hinzu, dass in statistischen Analysen sowohl die stärker vorhandenen Vorurteile wie auch eine Verschwörungsmentalität die Legitimität eines demokratischen Systems massiv untergraben, dann sind Rechtspopulistinnen und -populisten nicht nur eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern sogar für die Demokratie an sich.

Entsprechend erweist sich dann ein religiöses Verständnis, welches eine Wahlverwandtschaft zu Rechtspopulistinnen und -populisten herstellt, als gefährlich für die Demokratie. Nun sind Christinnen und Christen mit solchen Positionen in Deutschland eindeutig die Minderheit. Gleichwohl sind sie zu beachten, da es sich in der Regel um Christinnen und Christen handelt, denen die eigene Religion wichtig ist und die sich aktiv für ihr Verständnis von Religion einsetzen. Damit prägen sie das Bild vom Christentum in Deutschland manchmal fast so stark, wie die auf Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit zielenden zivilgesellschaftlich engagierten Christinnen und Christen, welche plural denkend einen zentralen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Nun kann jede Christin und jeder Christ den Glauben so leben, wie sie oder er will – welche Ausrichtung aber demokratischer ist, dies ist auch eindeutig.

Autor

Professor Dr. Gert Pickel ist Dozent für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Schwerpunkte sind die Religionssoziologie sowie die Demokratieforschung und die Forschung zur politischen Kultur.

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