Selbstwirksamkeit in der Krise

Gastbeitrag

„Was passiert, wenn man uns die Werkzeuge und Mittel nimmt, die wir brauchen, damit wir unsere gefühlte Selbstwirksamkeit in zielgerichtetes Handeln umsetzen können?“ Das fragen Dr. Katherine Bird und Wolfgang Hübner in ihrem Beitrag zur Selbstwirksamkeit in der Krise. Sie erkennen in der Corona-Krise eine für viele Familien verschärfte Situation.

Von Dr. Katherine Bird und Wolfgang Hübner

In unserer Forschungs- und Praxisarbeit beschäftigen wir uns seit langem mit der Frage, wie pädagogische Fachkräfte Eltern in Armutslagen besser unterstützen und ihre Erziehungshandlungen stärken können. Da diese Ansätze zu vielfältig und umfangreich sind, um sie alle hier darstellen zu können, konzentrieren wir uns auf den Begriff der Selbstwirksamkeit und auf äußere Rahmenbedingungen, die die persönlichen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einschränken oder lenken können und dadurch Selbstwirksamkeitserfahrungen verhindern. Besonders trifft dies natürlich auf die gegenwärtige Pandemiesituation zu.

Dr. Katherine Bird

Einengung der Handlungs- und Gestaltungsfreiheiten

Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, also der Gewissheit, durch das eigene Handeln Ziele erreichen und etwas für sich selbst und andere bewirken zu können, ist für die meisten von uns etwas Alltägliches. Was passiert jedoch, wenn man uns die Werkzeuge und Mittel nimmt, die wir brauchen, damit wir unsere gefühlte Selbstwirksamkeit in zielgerichtetes Handeln umsetzen können? Was geschieht mit uns, wenn ein plötzlicher Mangel an materiellen Ressourcen beginnt uns einzuengen? Der Verlust des Arbeitsplatzes oder ein Leben auf Hartz-IV-Niveau bedeuten vor allem erst einmal einen brutalen Einschnitt in die Entscheidungsfreiheit. Andere entscheiden, was wir essen, wo wir wohnen dürfen und wie weit wir uns bewegen dürfen.

Gestörte Selbstwirksamkeit der Eltern

Resignation, Hilflosigkeit und Rückzug kennzeichnen auch das Verhältnis von Eltern mit gestörter Selbstwirksamkeit gegenüber ihren Kindern. Sie sind nicht mehr in der Lage, angemessen und förderlich auf ihre Kinder zu reagieren und können deren Grundbedürfnisse nicht ausreichend erfüllen. Die Beziehung zum Kind wird immer distanzierter, bis zu dem Punkt, an dem es den Eltern mehr oder weniger egal ist, was das Kind macht.

Wolfgang Hübner

Es ist an diesem Punkt, wo die gestörte Selbstwirksamkeit der Eltern in den Blick der Umwelt gerät. Pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen definieren über Auffälligkeiten der Kinder die vermuteten Defizite der Eltern. Das Vokabular, um sie zu benennen, ist so umfangreich wie abwertend, ob „sozial schwach“, „bildungsfern“, „benachteiligt“ oder „Unterschicht“. Was diese Begriffe jedoch nicht widerspiegeln, ist die einfache Tatsache, dass es zuallererst einmal Mütter und Väter sind, über die gesprochen wird. Menschen mit individuellen Sozialisations- und Bildungsgeschichten, die Erfolge und Niederlagen erlebt haben und vor allem eines wollen, das Beste für ihr Kind.

Pandemie-Erfahrungen mit Lockdown und Homeschooling

Diese Dynamik wird durch die Corona-Pandemie noch einmal gesteigert. Das grundlegende Gefühl, den Familienalltag erfolgreich gestalten zu können, wird in vielen Familien durch Lockdown und Homeschooling von außen konterkariert. Eltern, die in ihrer eigenen Schulzeit zu wenig Wertschätzung, kaum Erfolgserlebnisse und selten Ermutigung zum selbstständigen Problemlösen erfahren haben, kann es schwerfallen, die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer zu übernehmen und ihre Kinder zum Lernen zu motivieren.

Wenn die extern von der Schule gesetzten Lernziele nicht erreicht werden, setzt dies bei den Kindern und Jugendlichen eine Grübelspirale in Gang: Ich kann das alles nicht, ich verstehe das alles nicht, wozu soll das gut sein? Es kontrolliert sowieso niemand, was ich mache. Ich mache lieber mal eine Pause, spiele ein bisschen. Die Berichte vieler Schulen über “verschwundene” Kinder und Jugendliche unterstreichen, wie oft nur Flucht als einziger Ausweg aus dem so erzeugten Stress erscheint.

Noch ist das ganze Ausmaß der Pandemieschäden in den Familien nicht sichtbar. Nicht nur schulische Leistungen sind davon betroffen, sondern auch die Gestaltung und das Gefüge des Zusammenlebens als Familie, das “doing family” ist in Mitleidenschaft gezogen. Daher muss als eine Konsequenz aus der Pandemie die Selbstwirksamkeit in Familien gestärkt werden – und nicht nur in Familien, die kurzfristig von der Pandemie betroffen waren, sondern gerade auch in denen, die einen längerfristigen Verlust erlitten haben.

Wertschätzung für Eltern und Kinder

Hierbei spielen die vorhandenen Ressourcen eine wesentliche Rolle, sowohl die individuellen psychosozialen und materiellen als auch soziale Unterstützung und Bindungen. Gerade hier, beim (Wieder-)Aufbau der Ressourcen, können Fachkräfte bei den vorhandenen Ressourcen der Eltern und Kinder anknüpfen und Familien darin unterstützen, gemeinsame Erfolgserlebnisse zu schaffen. Dies können durchaus alltägliche Aktivitäten sein: Ein neues Rezept gemeinsam kochen, ein neues Spiel ausprobieren, ein Schwimmabzeichen machen, es geht einfach darum, dass Eltern und Kinder wieder positive Erfahrungen zusammen machen.

Vor allem jetzt ist es auch wichtig, dass Eltern und Kinder Wertschätzung erfahren, egal wie „gut“ oder „schlecht“ sie sich durch die Pandemie geschlagen haben. Denn es geht nicht um die Benennung von schulischen oder erzieherischen Defiziten, sondern um das Wachsen als Mensch, um den Glauben etwas wert zu sein und die Erfahrung, durch das eigene Handeln etwas erreichen zu können. Erst wenn wir das als Gesellschaft schaffen, werden unsere Kinder ihre Zukunft selbstwirksam gestalten können.

 

Autorin
Dr. Katherine Bird, Soziologin, Berlin

Autor
Wolfgang Hübner, M.A., Historiker und Kulturwissenschaftler, Berlin

Im Zentrum ihrer Forschungs- und Beratungstätigkeit stehen von Armut betroffene Familien als Adressaten von Elternbildung und Elternarbeit. Gemeinsam verfassten sie das „Handbuch der Eltern- und Familienbildung mit Familien in benachteiligten Lebenslagen“.

 

Der Begriff der Selbstwirksamkeit

 

Selbstwirksamkeit ist der Glaube, Aufgaben erfolgreich bewältigen und Ziele erreichen zu können. Der Glaube wird durch Lernerfahrungen entwickelt, die in der Familie, in der Schule, unter Gleichaltrigen und in anderen sozialen Interaktionen gemacht werden. Dabei entwickelt sich eine stetige Gewissheit, die Umwelt selbstwirksam gestalten zu können. Erfolgreiche Akte der Selbstwirksamkeit bauen aufeinander auf. Wird ein Ziel erreicht, können neue, ambitioniertere Ziele entwickelt werden. Auf der anderen Seite können von Kindheit an akkumulierte Misserfolgserlebnisse Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit erzeugen, die zu langfristigen Selbstwirksamkeitsstörungen führen können.