„Wir werden weniger, älter und bunter“

Interview

Die Demografie und der Wandel auf dem Arbeitsmarkt sind nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Christoph Strünck die wichtigsten Herausforderungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland. Im Interview erklärt er, wie die Parteien darauf reagieren und was sich gegenüber der Zeit vor der Finanzkrise verändert hat.

Professor Dr. Christoph Strünck

Unser Land erlebt in vielerlei Hinsicht Veränderungen. Vor welchen Herausforderungen steht da die Wirtschafts- und Sozialpolitik?

Das sind vor allem demografische Herausforderungen und ein starker Wandel auf dem Arbeitsmarkt. Wir werden weniger, älter und bunter. Diese Erkenntnis hat ganz unterschiedliche Konsequenzen, keineswegs nur negative. Dass wir älter werden, ist ein Segen, zumal dann, wenn wir gesund altern können. Aber wir sehen inzwischen deutlicher, dass der demografische Wandel keineswegs nur die großen Sozialversicherungssysteme betrifft. Gefragt sind vor allem intelligente soziale Dienstleistungen vor Ort: um gleichen Zugang zu Bildung und Ausbildung zu gewähren, um bestimmten Gruppen wie Alleinerziehenden oder Flüchtlingen wesentlich wirksamer zu helfen oder um Pflegebedürftigkeit zu verringern. Die demografischen Unterschiede zwischen Regionen sind enorm. Doch nicht alle Städte wachsen, und nicht alle ländlichen Regionen schrumpfen.  Kommunen können den demografischen Wandel durchaus gestalten, wenn sie sich ihm selbstbewusst stellen. Auch der Arbeitsmarkt ändert sich. Einerseits werden in manchen Branchen die Fachkräfte knapp, andererseits verschwinden Arbeitsplätze, teilweise auch für Hochqualifizierte. Politik, Unternehmen und Tarifpartner tragen große Verantwortung, neue Qualifizierungs-Strategien und Berufsbilder zu entwickeln. Sozialpolitik ist auch eine Investition in die Zukunft, während Wirtschaftspolitik zugleich soziale Ungleichheit verringern kann.

Wie spiegelt sich das in den Aussagen der Parteien wider?

Bildung ist die beste Sozial- und Wirtschaftspolitik, gerade für die alternde Gesellschaft: Diese Losung scheint zum Wahlkampf-Repertoire fast aller Parteien zu gehören. Die Forderung nach beitragsfreien Kitas verkörpert diese neue Symbiose aus sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Innovation. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass selbst die sozial gerechteste Bildungspolitik keine Wirtschafts- oder Sozialpolitik ersetzt. Soziale Risiken gibt es immer, und sie verlangen nach stabilen Sicherungssystemen. Innovation und wirtschaftliche Kreativität beruhen auf Bildung, brauchen aber auch ganz andere Dinge wie ausreichend Risikokapital, offene Märkte oder Forschungsförderung. Auffällig ist, welchen Stellenwert öffentliche Investitionen in vielen Parteiprogrammen haben. Auch die Wirtschaft soll davon profitieren, wenn der Staat wieder mehr Wohnungen fördert, Schulen baut, in die Verkehrsinfrastruktur investiert oder digitale Netze knüpft. Umstritten ist, wie groß der Investitionsstau ist, umstritten ist auch, wie und in welcher Höhe Investitionen finanziert werden sollen. Die gute momentane Finanzlage motiviert aber offenbar dazu, nicht nur an die Schuldenbremse zu denken.

Hat sich hier etwas in den vergangenen Jahren verändert?

Politik und Medien haben das Thema der sozialen Ungleichheit neu entdeckt. Bis zur Finanzkrise war der Tenor ein ganz anderer: Es ging um die Bringschuld von Arbeitslosen und um überregulierte Arbeitsmärkte, es ging darum, dass der Sozialstaat zu teuer und zu uneffektiv sei, und dass vor allem die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden müsse. Während der Finanzkrise konnten sich dann selbst hartgesottene Marktradikale für Instrumente wie das Kurzarbeitergeld und andere sozialpolitische Segnungen erwärmen. Und schließlich geriet die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung wieder in den Blick. Vor der Finanzkrise wäre ein Autor wie Thomas Piketty mit seiner Ungleichheits-Bibel „Das Kapital“ wahrscheinlich von vielen ignoriert worden. Jetzt feiern die Medien ihn als Messias eines neuen kritischen Zeitalters. Einige Volkswirte erinnern allerdings daran, dass es nicht nur um Gerechtigkeit geht. Gesellschaften, in denen Einkommen und Vermögen sehr ungleich verteilt sind, verlieren offenbar auch an wirtschaftlicher Produktivität.

Welche Rolle spielt die älterwerdende Gesellschaft für den Wettbewerb der Parteien?

Immer häufiger ist die Rede von der Rentner-Demokratie. Doch diese These ist überzogen. Die zahlenmäßig stärkste Wähler-Gruppe sind die Frauen. Trotzdem käme niemand auf die Idee zu behaupten, Parteien und Regierungen würden sich vor allem um Frauen kümmern. Außerdem sind Frauen genau wie Rentnerinnen und Rentner eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Interessen. Auch zeigt die Wahlforschung, dass die Wahlentscheidungen älterer Menschen keineswegs nur etwas mit der Renten- oder Gesundheitspolitik zu tun haben. Genauso wichtig sind vielen Älteren diejenigen Politikfelder, in denen auch über die Zukunft jüngerer Generationen entschieden wird, also ihrer eigenen Kinder und Enkel: Bildungspolitik, Umweltpolitik oder Finanzpolitik. Allerdings vermittelte die Wahlentscheidung beim Brexit zuletzt ein ganz anderes Gefühl: Die Älteren setzen die Zukunft der Jungen aufs Spiel! Doch diese Erregung lässt vergessen, dass wir gar keinen klaren Generationenkonflikt haben, weder in England noch in Deutschland.

Aller Voraussicht nach wird eine neue Regierung nur mit einer Koalition von zwei oder drei Parteien zu bilden sein. Wie kompatibel sind die Positionen der Parteien für eine solche Koalition?

Es sind fast alle Kombinationen denkbar, unter Ausschluss der AfD. Wir haben doch längst eine pragmatische Koalitionsrepublik, wie man auch in den Bundesländern sieht. CDU und SPD sind trotz aller Unterschiede beides Sozialstaatsparteien, die Grünen haben viele liberale Elemente, die FDP betont Datenschutz und Bürgerrechte, die Linkspartei bekommt für einige wirtschaftspolitische Vorschläge Beifall von etablierten Ökonomen. Das heißt nicht, dass es keine grundsätzlichen Unterschiede mehr gäbe. In der Gesundheits- und Steuerpolitik existieren zum Beispiel ganz gegensätzliche Modelle und Vorstellungen. Aber Schnittmengen und Kompromisslinien sind sichtbar.

Christoph Strünck ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Siegen und leitet das Institut für Gerontologie an der Technischen Universität Dortmund.